Vorlage von Urkunden nach §142 ZPO: Eine äußerst spannende Frage hat der EUGH (C‑268/21) endlich beantworten können: Wie verhält sich die Anordnung eines Gerichts, Beweismittel wie speziell Urkunden vorzulegen, zur Datenschutzgrundverordnung? Die Frage war bisher ungeklärt und der EUGH hat die Anwendbarkeit der DSGVO auch in diesem Bereich bestätigt – was Folgewirkungen haben wird.
Das Ausgangsverfahren
Es gibt im Ausgangssachverhalt drei Beteiligte: Fastec baute für Nycander ein Bürogebäude. Die auf der Baustelle beschäftigten Personen erfassten ihre Anwesenheitszeiten in einem elektronischen Personalverzeichnis. Das Personalverzeichnis wurde von Entral im Auftrag von Fastec zur Verfügung gestellt.
Fastec erhob beim Tingsrätt (Gericht erster Instanz, Schweden) Klage auf Bezahlung der geleisteten Arbeit. Im Rahmen dieser Klage verlangte Fastec von Nycander die Zahlung eines Betrags, der nach Ansicht von Fastec dem von Nycander geschuldeten Restbetrag entsprach. Nycander bestritt die Forderung von Fastec und machte u. a. geltend, dass die Zahl der von ihrem Personal geleisteten Arbeitsstunden geringer gewesen sei als in der Forderung angegeben.
Vor Gericht beantragte Nycander, Entral aufzugeben, die ungeschwärzte Liste des Personals von Fastec für einen bestimmten Zeitraum vorzulegen, hilfsweise, eine Fassung vorzulegen, in der die nationalen Identifikationsnummern der betreffenden Personen unkenntlich gemacht sind. Nycander begründete diesen Antrag damit, dass Entral Inhaberin der Personalliste sei und dass diese ein wichtiges Beweismittel für die Entscheidung über die Klage von Fastec darstelle, da die in der Personalliste enthaltenen Daten den Nachweis der von den Beschäftigten von Fastec geleisteten Arbeitsstunden ermöglichten.
Fastec erhob Einspruch gegen diesen Antrag und machte insbesondere geltend, dass er gegen Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung verstoße. Die Personalakte von Fastec enthalte personenbezogene Daten, die erhoben worden seien, um der schwedischen Steuerbehörde die Kontrolle der Tätigkeit dieses Unternehmens zu ermöglichen, und die Offenlegung dieser Daten vor Gericht sei mit diesem Zweck unvereinbar.
Das Tingsrätt verurteilte Entral in erster Instanz zur Vorlage einer ungeschwärzten Fassung der Liste des Personals von Fastec, das im fraglichen Zeitraum auf der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Baustelle beschäftigt war. Diese Entscheidung wurde von der Cour d’appel bestätigt.
Die Vorlagefragen
Nach Einlegung eines Rechtsmittels legte der Högsta domstol (Oberster Gerichtshof, Schweden) dem EuGH folgende Fragen vor:
- Sind Art. 6 Abs. 3 und Abs. 4 DSGVO auch Anforderungen an das nationale Verfahrensrecht in Bezug auf die Vorlegungspflicht zu entnehmen?
- Falls Frage 1 zu bejahen ist: Sind nach der DSGVO auch die Interessen der betroffenen Personen zu berücksichtigen, wenn über die Vorlegung von Unterlagen mit personenbezogenen Daten entschieden wird? Enthält das Unionsrecht in einem solchen Fall Vorgaben dafür, wie im Einzelnen diese Entscheidung zu treffen ist?
Die Rechtslage in Deutschland
Kurz zur Rechtslage in Deutschland: Nach § 142 ZPO kann die Vorlage von Urkunden im Zivilprozess angeordnet werden. Die gerichtliche Anordnung der Urkundenvorlage gegenüber einer Partei ist jedoch nicht erzwingbar – wohl aber gegenüber Dritten (instruktiv dazu OLG Frankfurt, 8 W 28/18).
Ihre Nichtbefolgung führt dann aber zu negativen Folgen im Verfahrensverlauf bei der Würdigung. So kann ein unzureichender Sachvortrag die Folge sein, soweit die Urkunde zur Präzisierung des eigenen Streitstoffes erforderlich war. Und natürlich kann die unterlassene Vorlage im Rahmen der Beweiswürdigung als Beweisvereitelung nach § 286 vom Gericht frei gewürdigt werden. Soweit die DSGVO ein Argument wäre, insbesondere wenn personenbezogene Daten Dritter betroffen sind, wäre eine solche negative Würdigung durch das Gericht freilich kaum denkbar.
Zweckbindung bei Vorlageanordnung
Steht nun die Zweckbindung einer gerichtlichen Anordnung der Vorlage im Wege? Der EuGH kommt bei dieser Frage zu dem Ergebnis, dass Art. 6 Abs. 3 und 4 DSGVO so zu verstehen ist, dass diese Vorschrift im Rahmen eines zivilgerichtlichen Verfahrens auf die Vorlage eines Personalverzeichnisses als Beweismittel anwendbar ist, das personenbezogene Daten Dritter enthält, die hauptsächlich zum Zweck der Steuerprüfung erhoben wurden.
Damit stellt der EuGH klar, dass die Verarbeitung der hier betroffenen Daten im Rahmen eines Gerichtsverfahrens wie des Ausgangsverfahrens eine Verarbeitung zu einem anderen Zweck als demjenigen ist, zu dem die personenbezogenen Daten erhoben wurden, nämlich zu Steuerprüfungszwecken, und dass dieser Zweck nicht auf der Einwilligung der betroffenen Personen im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Buchst. a DSGVO beruht.
Unter diesen Umständen muss die Verarbeitung personenbezogener Daten zu einem anderen Zweck als dem, zu dem sie erhoben wurden, nicht nur auf nationalem Recht beruhen, sondern auch eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme im Sinne von Art. 6 Abs. 4 DSGVO darstellen und eines der in Art. 23 Abs. 1 DSGVO genannten Ziele gewährleisten.
Hierzu hebt der EuGH hervor, dass zu diesen Zielen nach Art. 23 Abs. 1 lit. f DSGVO der „Schutz der Unabhängigkeit der Rechtsprechung und der Schutz von Gerichtsverfahren“ gehören, wobei dieses Ziel so zu verstehen ist, dass es auf den Schutz der Rechtspflege vor internen oder externen Eingriffen, aber auch auf eine geordnete Rechtspflege abzielt. Darüber hinaus stellt nach Art. 23 Abs. 1 lit. j DSGVO auch die Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche einen Zweck dar, der die Verarbeitung personenbezogener Daten zu einem anderen Zweck als dem, zu dem sie erhoben wurden, rechtfertigen kann.
Es ist daher mit dem EuGH nicht ausgeschlossen, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten Dritter im Rahmen eines zivilgerichtlichen Verfahrens auf solche Zwecke gestützt werden kann!
Berücksichtigung der Interessenlage bei Anordnung
Das Gericht kann also die Vorlage anordnen – aber was muss es hierbei in die Abwägung bei der Angemessenheitsprüfung einstellen?
Dabei ist zu berücksichtigen, dass nach diesem Grundsatz der Datensparsamkeit personenbezogene Daten dem Zweck entsprechen und dafür erheblich sein müssen und auf das für die Zwecke der Verarbeitung erforderliche Maß beschränkt sein müssen. Es ist daher Sache des betreffenden Gerichts, zusammen mit dem EuGH zu prüfen, ob die Offenlegung personenbezogener Daten zur Erreichung des mit den anwendbaren Bestimmungen des nationalen Rechts verfolgten Zwecks angemessen und erheblich ist – und ob dieser Zweck nicht durch die Verwendung von Beweismitteln erreicht werden kann, die weniger in den Schutz der personenbezogenen Daten einer großen Zahl von Dritten eingreifen, wie z. B. die Vernehmung ausgewählter Zeugen.
Für den Fall, dass sich die Vorlage des Dokuments, das personenbezogene Daten enthält, als gerechtfertigt erweist, folgt aus diesem Grundsatz ferner, dass das nationale Gericht, wenn sich herausstellt, dass nur ein Teil dieser Daten für Beweiszwecke erforderlich ist, die Ergreifung zusätzlicher Datenschutzmaßnahmen in Erwägung ziehen muss, wie die Pseudonymisierung der Namen der betroffenen Personen im Sinne von Artikel 4 Nummer 5 der Verordnung oder jede andere Maßnahme, die dazu bestimmt ist, den Eingriff in das Recht auf Schutz personenbezogener Daten, den die Vorlage eines solchen Dokuments darstellt, so gering wie möglich zu halten. Solche Maßnahmen können insbesondere die Beschränkung der Akteneinsicht für die Öffentlichkeit oder die Anweisung an die Parteien, denen die Dokumente, die personenbezogene Daten enthalten, zugänglich gemacht wurden, umfassen, diese Daten zu keinem anderen Zweck als zur Beweisführung in dem betreffenden Gerichtsverfahren zu verwenden.
Daraus folgert der EuGH, dass ein nationales Gericht die Übermittlung personenbezogener Daten von Parteien oder Dritten für erforderlich halten kann, um in voller Kenntnis der Sachlage und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eine Abwägung der betroffenen Interessen vornehmen zu können. Diese Abwägung kann es gegebenenfalls veranlassen, die vollständige oder teilweise Offenlegung der ihm auf diese Weise übermittelten personenbezogenen Daten gegenüber der Gegenpartei zu genehmigen, wenn es meint, dass eine solche Offenlegung nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die wirksame Ausübung der den Rechtsuchenden durch Artikel 47 der Charta verliehenen Rechte zu gewährleisten.
Konsequenzen für deutsche Zivilprozesse
Als Erstes ist zu sehen, dass sich die Vorlageanordnung eindeutig im Spannungsfeld aus ZPO und DSGVO bewegt, die DSGVO ist hierbei zwingend zu beachten, steht einer gerichtlichen Anordnung aber nicht per se entgegen. Die Belange haben dabei eine Doppelfunktion und sind bereits im Rahmen des Ermessens bei der Anordnung der Vorlage zu berücksichtigen, aber dann auch bei der Würdigung einer Weigerung.
Spannende Fragen …
Die hier thematisierte Frage geht sehr weit, wenn man etwa bedenkt, dass auch digitale Daten von einer Vorlagepflicht als „andere Unterlagen“ erfasst sein können (so Stadler in Musielak/Voit, ZPO, §142, Rn.2). Wo die Grenzen liegen, ist noch nicht klar, im Wege des § 142 ZPO die Durchsetzung einer Datenauskunft nach Art. 15 DSGVO zu begehren etwa ist keineswegs fernliegend, wird aber wohl kritisch gesehen (so äußerte sich zuletzt das Oberlandesgericht Köln, 5 W 5/20).
Der EuGH stellt dabei unmissverständlich klar, wo der Ball liegt, wenn er feststellt, dass das nationale Gericht bei der Beurteilung der Frage, ob die Vorlage eines Dokuments, das personenbezogene Daten enthält, anzuordnen ist, verpflichtet ist, die Interessen der betroffenen Personen zu berücksichtigen und sie entsprechend den Umständen des Einzelfalls, der Art des betreffenden Verfahrens und unter gebührender Berücksichtigung der Anforderungen, die sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben, insbesondere der Anforderungen, die sich aus dem Grundsatz der Datenminimierung ergeben, gegeneinander abzuwägen.
Allerdings dürfte der Ball zumindest teilweise von den Gerichten zurückgespielt werden: Mit Blick auf die Ausführungen des EuGH wird Vortrag des die Urkunde Begehrenden zur Interessenlage und -Abwägung ebenso erforderlich sein wie dazu, welche Maßnahmen zur Datenminimierung aus seiner Sicht sinnvoll sind (insoweit hat sich schon früh der BGH postiert in BGH, X ZR 114/03).
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