EGMR zu Anforderungen an digitale Beweismittel und Kryptomessenger

Während in Deutschland noch gestritten wird, wie man mit digitalen Beweismitteln umzugehen hat – und vor allem, wie damit umzugehen ist, wenn wie bei Encrochat-Verfahren kein Zugriff auf Rohdaten für die Verteidigung besteht, hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hier längst postiert.

Besonders das Verfahren Yalçınkaya gegen Türkei spielt hierbei eine erhebliche Rolle: Der EGMR betonte in diesem Verfahren die wachsende Bedeutung elektronischer Beweismittel in Strafverfahren aufgrund der Digitalisierung. Er wies darauf hin, dass solche Beweismittel sich von traditionellen unterscheiden und anfälliger für Manipulationen sind, wodurch Fragen zur Zuverlässigkeit aufkommen. Die Komplexität der Technologie und Verfahren kann die Beurteilung ihrer Echtheit durch Richter erschweren.

Trotz der potenziellen Bedeutung dieser Beweismittel im Kampf gegen organisierte Kriminalität, müssen sie in Übereinstimmung mit den Grundprinzipien eines fairen Verfahrens verwendet werden. Im konkreten Fall betonte der Gerichtshof, dass der Kläger nicht ausreichend Zugang zu den relevanten Daten (speziell den Rohdaten!) hatte und die nationalen Gerichte nicht angemessen auf seine Bedenken reagierten, was die Fairness des Verfahrens infrage stellte. Insbesondere ist es nicht ausreichend, wenn ein Betroffener auf die Auswerteberichte der Ermittler verwiesen wird! Die Verteidigung muss sich also mit dem EGMR nicht darauf verweisen lassen, sich mit den Ermittlungsergebnissen zufriedenzustellen. Sollte es hier zu mangelnder Verteidigungsmöglichkeit kommen, steht vielmehr mit dem EUGH ein Beweisverwertungsverbot im Raum!

In dem weniger beachteten Verfahren Akgün gegen Türkei hat der EGMR darüber hinaus betont, dass alleine die Benutzung eines Kryptomessenger (hier: Bylock) nicht ausreichend ist, um einen Verdacht und damit einen Haftgrund hinsichtlich krimineller Handlungen anzunehmen. Eine Auffassung, die deutsche Gerichte bisher nicht so verinnerlicht haben.

Yüksel Yalçınkaya v. Türkiye [GC] – 15669/20

Der Gerichtshof erkannte an, dass elektronische Beweismittel in Strafprozessen angesichts der zunehmenden Digitalisierung aller Lebensbereiche allgegenwärtig geworden sind. Der Rückgriff auf elektronische Beweismittel, die belegen, dass eine Person ein verschlüsseltes Nachrichtensystem verwendet hat, das speziell für eine kriminelle Organisation entwickelt wurde und ausschließlich von dieser für die interne Kommunikation genutzt wird, könnte bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität sehr wichtig sein.

Der Gerichtshof stellte ferner fest, dass sich elektronische Beweismittel in vielerlei Hinsicht von herkömmlichen Beweismitteln unterscheiden und besondere Fragen der Zuverlässigkeit aufwerfen, da sie von Natur aus anfälliger für Zerstörung, Beschädigung, Veränderung oder Manipulation sind. Der Gerichtshof wies ferner darauf hin, dass die Verwendung ungeprüfter elektronischer Beweismittel in Strafverfahren für die Justiz mit Schwierigkeiten verbunden sein könnte, da die Art des Verfahrens und der Technologie, die bei der Erhebung solcher Beweismittel angewandt werden, komplex sind und daher die Fähigkeit der nationalen Richter, die Echtheit, Genauigkeit und Integrität der Beweismittel festzustellen, beeinträchtigen könnten.

Darüber hinaus könnte der Umgang mit elektronischen Beweismitteln, insbesondere wenn es sich um verschlüsselte und/oder umfangreiche Daten handelt, die Strafverfolgungs- und Justizbehörden sowohl in der Ermittlungs- als auch in der Prozessphase vor große praktische und verfahrensrechtliche Herausforderungen stellen. Diese Faktoren verlangten jedoch nicht, dass die Garantien nach Artikel6 §1 anders, sei es strenger oder nachsichtiger, angewandt werden sollten. Das Gericht hatte zu beurteilen, ob die Fairness des Verfahrens insgesamt durch die Brille der verfahrensrechtlichen und institutionellen Garantien und der Grundprinzipien eines fairen Verfahrens gewährleistet war.

(a) Qualität des Beweismaterials – Obwohl das Gericht anerkannte, dass die Umstände, unter denen die Bylock-Daten vom MİT abgerufen wurden, p rima facie Zweifel an ihrer „Qualität“ aufkommen ließen, da es keine besonderen Verfahrensgarantien gab, um ihre Integrität bis zur Übergabe an die Justizbehörden zu gewährleisten, hatte es keine ausreichenden Anhaltspunkte, um die Richtigkeit der ByLock-Daten in Frage zu stellen – zumindest insoweit, als es die Verwendung dieser Anwendung durch die Klägerin festgestellt hatte.

(b) Die Möglichkeit des Klägers, die Beweise in einem Verfahren anzufechten, das den Garantien von Artikel 6 Absatz entsprach. Die Tatsache, dass der Kläger hier Zugang zu allen ByLock-Berichten in der Fallakte gehabt hatte, bedeutete nicht zwangsläufig, dass er kein Recht oder Interesse daran hatte, Zugang zu den Daten zu erhalten, aus denen diese Berichte erstellt worden waren. Die fraglichen ByLock-Daten seien in seinem Fall von entscheidender Bedeutung gewesen, da sie der Auslöser für das Strafverfahren gegen ihn gewesen seien. Im Wesentlichen hätten sie nicht nur dazu gedient, die individualisierten Informationen über die angebliche Nutzung von ByLock durch den Kläger zu sammeln, sondern hätten auch die Grundlage dafür gebildet, dass es als ausschließlich organisatorisches Kommunikationsmittel eingestuft worden sei, und hätten damit unmittelbar zu der Verurteilung des Klägers geführt. Außerdem könne nicht ausgeschlossen werden, dass das ByLock-Material möglicherweise Elemente enthalten habe, die es dem Kläger ermöglicht hätten, sich selbst zu entlasten oder die Zulässigkeit, Zuverlässigkeit, Vollständigkeit oder Beweiskraft dieses Materials in Frage zu stellen.

Da die vom ByLock-Server erhaltenen Rohdaten dem Kläger nicht zugänglich gemacht worden seien, habe er nicht die Möglichkeit gehabt, die Integrität und Zuverlässigkeit dieser Beweismittel aus erster Hand zu prüfen und die ihnen zugeschriebene Relevanz und Bedeutung in Frage zu stellen. Grundsätzlich obliege es in dieser Situation den nationalen Gerichten, diese Fragen einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Nach Prüfung dieser Frage auf der Grundlage seiner ständigen Rechtsprechung kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass der Nachteil, der der Verteidigung dadurch entstanden ist, nicht durch angemessene Verfahrensgarantien ausgeglichen worden ist, die dem Kläger eine echte Möglichkeit gegeben hätten, die gegen ihn erhobenen Beweise anzufechten und seine Verteidigung wirksam und gleichberechtigt mit der Staatsanwaltschaft durchzuführen.

Insbesondere hätten die innerstaatlichen Gerichte weder Gründe für die beanstandete Nichtoffenlegung angegeben noch auf den Antrag des Klägers auf eine unabhängige Prüfung der Daten zur Überprüfung ihres Inhalts und ihrer Integrität oder auf seine Bedenken hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit reagiert. Außerdem sei dem Kläger keine Gelegenheit gegeben worden, sich mit dem entschlüsselten ByLock-Material vertraut zu machen, insbesondere mit der Art und dem Inhalt seiner Tätigkeit im Zusammenhang mit dieser Anwendung, was einen wichtigen Schritt zur Wahrung seiner Verteidigungsrechte dargestellt hätte, insbesondere angesichts des überwiegenden Gewichts dieser Beweise für seine Verurteilung. Der Schaden, den die Verteidigung aufgrund dieser Mängel erlitten habe, sei durch die mangelhafte Argumentation der inländischen Gerichte in Bezug auf die ByLock-Beweisenoch verstärkt worden. Vor allem hatten die Gerichte nicht ausreichend erklärt, wie festgestellt wurde, dass ByLock nicht von jemandem verwendet wurde und auch nicht von jemandem verwendet werden konnte, der kein „Mitglied“ der FETÖ/PDY im Sinne von Artikel314 §2 war.

Das Versäumnis der inländischen Gerichte, auf die konkreten und sachdienlichen Anträge und Einwände des Antragstellers einzugehen, ließ den berechtigten Zweifel aufkommen, dass sie für die Argumente der Verteidigung unempfänglich waren und dass der Antragsteller nicht wirklich „gehört“ wurde. In Anbetracht der Bedeutung ordnungsgemäß begründeter Entscheidungen für eine ordnungsgemäße Rechtspflege weckte das Schweigen der inländischen Gerichte zu wesentlichen Kernfragen des Falles auch begründete Bedenken seitens des Antragstellers hinsichtlich ihrer Feststellungen und der Durchführung des Strafverfahrens „nur der Form halber“.

Der Gerichtshof erkannte zwar an, dass elektronische Beweismittel dieser Art im Kampf gegen den Terrorismus oder andere Formen der organisierten Kriminalität grundsätzlich sehr wichtig sein können, betonte aber, dass sie – wie jedes andere Beweismittel – von den nationalen Gerichten nicht in einer Weise verwendet werden dürfen, die die Grundprinzipien eines fairen Verfahrens untergräbt.


Akgün/Türkei – 19699/18

Die angebliche kriminelle Tätigkeit des Klägers betraf die organisierte Kriminalität. Generell und unbeschadet seiner späteren Prüfung der vorliegenden Rechtssache vertrat der Gerichtshof die Auffassung, dass die Verwendung elektronischer Beweismittel, die darauf hindeuten, dass eine Person einen verschlüsselten Nachrichtendienst nutzt, der speziell für eine kriminelle Vereinigung entwickelt wurde und ausschließlich von dieser für ihre interne Kommunikation verwendet wird, ein wichtiges Instrument zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität sein kann.

Folglich könnte ein Verdächtiger zu Beginn des Verfahrens auf der Grundlage eines solchen Beweises festgenommen werden, da er ein starkes Indiz für die Zugehörigkeit dieser Person zu einer solchen Organisation darstellen könnte. Die Verwendung solcher Beweise als alleinige Grundlage für einen Verdacht könnte jedoch eine Reihe heikler Fragen aufwerfen, da das Verfahren und die Technologien, die bei der Erhebung dieser Beweise angewandt werden, naturgemäß komplex sind und die nationalen Gerichte dementsprechend weniger in der Lage sein könnten, ihre Echtheit, Genauigkeit und Integrität festzustellen. Wenn derartige Beweismittel die einzige oder ausschließliche Grundlage für den gegen eine Person erhobenen Verdacht bilden, muss das einzelstaatliche Gericht über ausreichende Informationen über das betreffende Material verfügen, bevor es dessen mögliche Beweiskraft nach innerstaatlichem Recht mit der gebotenen Vorsicht prüft:

In den Entscheidungen des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte (HSYK) vom 24. und 31. August 2016, in denen Richter, die verdächtigt wurden, Verbindungen zur FETÖ/PDY zu haben, entlassen wurden, war der HSYK zu einer Feststellung über die Art von ByLock gelangt: ein verschlüsseltes Kommunikationssystem, das von den Mitgliedern dieser Organisation für ihre interne Kommunikation genutzt wurde. In keiner dieser beiden Entscheidungen der HSYK wurde jedoch festgestellt, dass der verschlüsselte Nachrichtendienst ByLock ausschließlich von Mitgliedern der FETÖ/PDY zur Gewährleistung der geheimen Kommunikation innerhalb dieser Organisation genutzt wurde. Grundsätzlich könne die bloße Tatsache des Herunterladens oder der Nutzung eines verschlüsselten Kommunikationsmittels oder auch die Verwendung einer anderen Methode zum Schutz der Privatsphäre der ausgetauschten Nachrichten für sich genommen keinen Beweis darstellen, der einen objektiven Beobachter davon überzeugen könne, dass eine rechtswidrige oder kriminelle Tätigkeit ausgeübt werde. Nur wenn die Verwendung eines verschlüsselten Kommunikationsmittels durch andere Beweise für diese Verwendung gestützt wird, wie z. B. den Inhalt der ausgetauschten Nachrichten oder den Kontext eines solchen Austauschs, kann man von Beweisen sprechen, die einen objektiven Beobachter davon überzeugen können, dass es berechtigte Gründe für den Verdacht gibt, dass die Person, die dieses Kommunikationsmittel verwendet, Mitglied einer kriminellen Vereinigung ist. Außerdem mussten die den nationalen Gerichten vorgelegten Informationen über eine solche Nutzung hinreichend genau sein, damit das zuständige Gericht zu dem Schluss kommen konnte, dass das betreffende Nachrichtensystem in Wirklichkeit nur für die Nutzung durch Mitglieder einer kriminellen Vereinigung bestimmt war. Diese Beweise fehlten jedoch im vorliegenden Fall.

In Anbetracht der Entscheidungen der HSYK habe das Amtsgericht bei der Anordnung der ersten Untersuchungshaft des Beschwerdeführers im Jahr 2016 nicht über ausreichende Informationen über die Art von ByLock verfügt, um zu dem Schluss zu kommen, dass dieser Messaging-Dienst ausschließlich von Mitgliedern der Organisation FETÖ/PDY zu Zwecken der internen Kommunikation genutzt werde. Ebenso wenig gab es andere tatsächliche Anhaltspunkte oder Informationen, die den Verdacht gegen den Beschwerdeführer in der Untersuchungshaftanordnung oder in den anderen einschlägigen Entscheidungen hätten rechtfertigen können.

In diesem Zusammenhang geht aus der Anordnung der Untersuchungshaft hervor, dass das Amtsgericht lediglich den Wortlaut der Strafprozessordnung (StPO) zitiert hat, ohne sich die Mühe zu machen, die „konkreten Anhaltspunkte, die einen dringenden Tatverdacht begründen“ im Sinne der einschlägigen Vorschrift genau zu benennen. Die vage und allgemeine Bezugnahme auf den Wortlaut dieser Vorschrift oder gar auf die in der Akte befindlichen Beweismittel könne nicht als ausreichend angesehen werden, um die „Angemessenheit“ des Verdachts zu begründen, auf den die Haftanordnung angeblich gestützt worden sei, da weder eine konkrete Bewertung der einzelnen in der Akte befindlichen Beweismittel noch irgendwelche Informationen, die den Verdacht gegen den Antragsteller hätten begründen können, oder andere Arten von überprüfbarem Material oder Fakten vorlägen.

Rechtsanwalt Jens Ferner (IT-Fachanwalt & Strafverteidiger)
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