Das Oberlandesgericht Koblenz (5 Ws 16/21) konnte sich in einer sehr spannenden Entscheidung zum Zugriff der Verteidigung auf digitale Beweismittel (bzw. die vorgehaltenen Speichermedien) äußern. Dabei ist es der Regelfall, dass deutsche Verteidiger hier zuerst vor Wände laufen. Die vorliegende Problematik wird sich in den nächsten Jahren weiter verschärfen, die aktuelle OLG-Entscheidung wird Präzedenz-Charakter haben.
So hat das OLG nun klargestellt, dass die Durchsicht beschlagnahmter elektronischer Speichermedien nun einmal entsprechend § 110 Abs. 1 StPO originäre Aufgabe der Staatsanwaltschaft ist. Zu Beweisstücken im Sinne des § 147 Abs. 1 StPO werden im Rahmen der Durchsuchung vorläufig sichergestellte Datenträger bzw. Schriftstücke erst, wenn die Durchsicht gem. § 110 Abs. 1 StPO abgeschlossen und eine Beschlagnahmeanordnung ergangen ist, so das OLG:
Zu Beweisstücken im Sinne des § 147 Abs. 1 StPO werden die im Rahmen der Durchsuchung vorläufig sichergestellten Datenträger erst, wenn die Durchsicht gem. § 110 Abs. 1 StPO erfolgt und eine Beschlagnahmeanordnung ergangen ist (OLG Jena, Beschl. 1 Ws 313/00 v. 20. 11. 2000 – NJW 2001, 1290 <1294>). Erst dann entsteht das Besichtigungsrecht der Verteidigung (…) Die Beschlagnahme (und die damit geschaffene Verfügungsbefugnis des Gerichts) setzt nämlich voraus, dass die zu beschlagnahmenden Gegenstände mit einer gewissen Genauigkeit bezeichnet werden können, sodass von diesen Gegenständen auch gesagt werden kann, dass sie als Beweismittel für die gerichtliche Untersuchung zu einem bestimmten einschlägigen Thema von Bedeutung sein können (…).
Hat das Gericht über die Beweisbedeutung entschieden oder sind einzelne Daten seitens der Staatsanwaltschaft zum Aktenbestand gemacht worden, weil sie diese für verfahrensrelevant erachtet hat, ist eine Entscheidung über die Art und Weise, wie diese nun verfahrensgegenständlichen Beweisstücke den Beteiligten zugänglich gemacht werden sollen, einer Anfechtungsmöglichkeit gem. § 32f Abs. 3 StPO entzogen. Dies ist auch sachgerecht, da nunmehr (ähnlich wie bei zuvor geprüften TKÜ-Audiodateien) eine gewisse (wenn auch angesichts der regelmäßig anfallenden Datenmengen nicht lückenlose) Vorprüfung auf eine mögliche Verfahrensrelevanz und Rechte Dritter stattgefunden hat.
Das Thema ist ein Dauerbrenner, speziell in Cybercrime-Verfahren streitet man sich ständig, wann man endlich den vollständigen Aktenstand erhält – und manche OLG, wie das OLG Köln, blockieren eine rechtsstaatliche Verteidigung geradezu bewusst, indem – mit fadenscheinigen Argumenten – bis heute etwa ein voller Zugriff der Verteidigung auf TKÜ-Daten verhindert wird.
Es ist in Deutschland noch ein weiter Weg, auch wenn BVerfG und EGMR grundsätzlich dabei sind, den hiesigen Rechtsstaat auf neue Wege zu zwingen – wer aber glaubt, es sei eine Selbstverständlichkeit, auf Augenhöhe zu streiten, wird schnell eines besseren belehrt. Die vorliegende OLG-Entscheidung bietet aber zumindest einen weiteren zaghaften Schritt in die richtige Richtung.
Ein Besichtigungsrecht der Verteidigung entsteht damit natürlich erst nach erfolgter Durchsicht und entsprechender Beschlagnahme – was natürlich wiederum die Macht der Steuerung des Ermittlungsverfahrens, in Tiefe und Zeit, durch die Staatsanwaltschaft zementiert. Sosehr dies vom Gesetz gewollt war, mag überdacht werden, ob dieser Zeitgeist des vergangenen Jahrhunderts noch in einen modernen Strafprozess gehört (so sehr man sich dies in Deutschland wünschen mag).
Gleichwohl korrespondiert mit dem bisher gesagten für das OLG die Verpflichtung der Staatsanwaltschaft, die Auswertung im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz „zügig“ vorzunehmen, um
„abhängig von der Menge des vorläufig sichergestellten Materials und der Schwierigkeit seiner Auswertung in angemessener Zeit zu dem Ergebnis zu gelangen, was als potenziell beweiserheblich dem Gericht zur Beschlagnahme angetragen und was an den Beschuldigten oder Drittbetroffenen herausgegeben werden soll (BGH, Beschl. 2 BJs 11/03-5 – StB 7/03 v. 05.08.2003 – NStZ 2003, 670). „
Verhindert werden soll hierdurch insbesondere, dass während laufender Hauptverhandlung stetig neue, bis dahin jedenfalls den übrigen Beteiligten unbekannt gebliebene Beweismittel nachgeliefert werden und gegebenenfalls – wie vorliegend geschehen – die Hauptverhandlung ausgesetzt werden muss. Doch die Ansagen in Richtung einer Gewährleistung der Verteidigung gegen weiter: So merkt der Senat an, dass es gerade nicht Aufgabe der Verteidigung ist, vorläufig sichergestellte und hinsichtlich ihrer Beweisbedeutung noch nicht eingeordnete Datenträger „mittels eigener Suchbegriffe nach weiteren für relevant erachteten Dokumenten zu durchforsten“:
Da die Durchsicht gem. § 110 Abs. 1 StPO noch Teil der Durchsuchung ist, an der der Verteidiger nicht teilnehmen darf, geht auch eine Berufung auf das Recht zur Besichtigung von amtlich verwahrten Beweisstücken gem. § 147 Abs. 1 StPO insoweit ins Leere (OLG Jena, Beschl. 1 Ws 313/00 v. 20. 11. 2000 – NJW 2001, 1290 <1294>). Da die Staatsanwaltschaft gem. § 160 Abs. 2 StPO nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln und für die Erhebung der Beweise Sorge zu tragen, deren Verlust zu besorgen ist, liegt hierin aber keine unzulässige Beschränkung der Verteidigung. Die Ressorts der Polizei- und Justizverwaltung sind insoweit gehalten, die erforderlichen personellen und technischen Ressourcen zur Verfügung zu stellen, die eine Bewältigung entsprechender Datenmengen gegebenenfalls auch mittels entsprechender Software und unter Hinzuziehung externen Sachverstands ermöglichen.
Eine frühzeitige Beteiligung der Verteidigung an den Ermittlungen dergestalt, dass ein Recht der Verteidigung auf Beteiligung an der Durchsicht von Papieren und elektronischen Speichermedien besteht, verneint das OLG – unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR. Dieses ergebe sich auch nicht aus einer in dem Zusammenhang gerne genannten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wonach die Strafverfolgungsbehörden zur Ermöglichung eines fairen Verfahrens im Sinne von Art. 6 Abs. 1 u. 3 EMRK gehalten sind, der Verteidigung jedenfalls bei stichhaltig begründetem Antrag alle in ihren Händen befindlichen sachlichen Beweise zulasten und zugunsten des Betroffenen offenzulegen:
Zwar führt der Gerichtshof insoweit aus, dies schließe alles ein, was sich in der Hand der Behörden befinde und möglicherweise relevant sei, auch wenn es überhaupt nicht in Erwägung gezogen oder als nicht relevant angesehen wurde (…) Zum einen besagt die Entscheidung des Gerichtshofs jedoch nicht, zu welchem Zeitpunkt eine Einsicht in elektronische Dateien gewährt werden muss. In dem zu Grunde liegenden Fall bestand die Einsichtsmöglichkeit nach Anklageerhebung, die Möglichkeit des Zugriffs auf die auf eine vom Verteidiger gestellte Festplatte kopierten Dateien etwa drei Monate vor Urteilsverkündung, was vom Gerichtshof als ausreichend erachtet wurde.
OLG zu EGMR, Urt. 1586/15 R/Deutschland v. 25.07.2019 – NJW 2020, 3019; vgl. auch die dasselbe Verfahren betreffende Revisionsentscheidung des Bundesgerichtshofs vom 11.02.2014, Beschl. 1 StR 355/13 – NStZ 2014, 347
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