EUGH zu Encrochat 2024: Effektive Verteidigung muss in Deutschland sichergestellt sein

Encrochat beim EUGH – die Zeichen stehen auf Wechsel in deutschen Strafprozessen, die Verwertung ist jedenfalls kein Selbstläufer! Heute richtet sich die Aufmerksamkeit der juristischen Welt erneut auf den Europäischen Gerichtshof (EuGH), wo die wegweisende Entscheidung zur Verwertung der EncroChat-Daten in deutschen Strafprozessen verkündet wurde, wobei die Pressemitteilung recht schwammig ist – aber einen wesentlichen und von mir erhofften Aspekt aufgreift:

Das nationale Strafgericht muss in einem Strafverfahren gegen eine Person, die der Begehung von Straftaten verdächtig ist, Beweismittel unberücksichtigt lassen, wenn die betroffene Person nicht in der Lage ist, zu ihnen Stellung zu nehmen, und wenn sie geeignet sind, die Würdigung der Tatsachen maßgeblich zu beeinflussen.

Die Rechtsprechung des EUGH konturiert sich damit, muss aber differenziert betrachtet werden. Wobei ein weiterer Punkt überrascht. Dazu auch der Bericht bei Heise-Online.

Bitte beachten Sie, dass dieser Beitrag sehr zeitnah auf Basis der Pressemitteilung hier im Blog veröffentlicht wurde, um dem Informationsbedürfnis der vielen Betroffenen und hiesigen Mandanten gerecht zu werden. Es wird Tage dauern, bis ich die Entscheidung wirklich vollständig aufgearbeitet habe, sehen Sie daher später noch einmal hier hinein, es wird mit hoher Sicherheit eine tiefergehende Besprechung von mir geben. Rufen Sie nicht an, senden Sie keine Mail, haben Sie Geduld: Qualität braucht Zeit! Beachten Sie auch den LinkedIn-Beitrag dazu.

Worum ging es bei Encrochat

EncroChat, einst eine Plattform für verschlüsselte Kommunikation, wurde vor allem von kriminellen Kreisen genutzt und später von den Sicherheitsbehörden geknackt, wodurch eine Fülle von Daten gesichert werden konnte. Diese Daten haben bereits in zahlreichen Fällen als Beweismittel gedient, jedoch nicht ohne rechtliche Kontroversen und Herausforderungen.

Die anstehende Entscheidung des EuGH wird daher maßgebliche Auswirkungen auf die weitere Nutzung solcher digital erlangten Beweise in der deutschen Rechtsprechung haben – aber auch auf den Rechtsfrieden hinsichtlich der zahlreichen, schon abgeschlossenen Verfahren. Zumal es inzwischen eine Vielzahl ähnlicher Zugriffe und Strafverfahren gibt, etwa zu ANOM und SkyECC; hier im Blog laufen diese Verfahren unter dem Schlagwort Kryptomessenger.

Was sagt der EUGH nun zu Encrochat

Aktuell jedenfalls verstehe ich die Entscheidung so, dass man sich klar postiert hat, dass Verwertungsverbote auf nationaler Ebene existieren müssen, wenn man sich nicht ordentlich verteidigen kann, weil es keine vernünftigen Möglichkeiten der Akteneinsicht gibt.

Das ist nicht neu: Der EUGH hat damit seine frühere Rechtsprechung zu nationalen Verwertungsverboten – und die parallel entstanden Rechtsprechung des EGMR zu Kryptomessengern – aufgegriffen, die ich sowohl hier im Blog als auch in meinen Vorträgen immer und immer wieder (auch vor Richtern) betont habe, was in Deutschland aber bisher ignoriert wurde. Es muss abgewartet werden, was im konkreten Urteils dazu steht, also wie klar die Ansage an Deutschland in dem Punkt wird. Hier liegt viel Sprengkraft und es ist gut, dass der EUGH der deutschen Strafjustiz nun endlich klare Ansagen an diesem Punkt gibt.

Übrigens findet man diese Rechtsauffassung auch von mir im BeckOK-StPO (BeckOK StPO/Ferner TKG § 174 Rn. 35) sowie in einem JurisPR Strafrecht (Ferner, jurisPR-StrafR 11/2023 Anm. 4) schon frühzeitig angesprochen und hinsichtlich des vorliegenden Verfahrens prognostiziert!

Doch es geht weiter: Der EuGH bestätigte nämlich, dass eine Europäische Ermittlungsanordnung, die auf die Übermittlung von Beweismitteln gerichtet ist, die gleichen materiellen Voraussetzungen erfüllen muss, wie sie im Anordnungsstaat für die Erhebung solcher Beweismittel bei einem rein innerstaatlichen Sachverhalt gelten würden. Auch dies ist zwar nicht überraschend, könnte aber ein Einfallstor sein, denn es wurde bisher eher in solchen Verfahren ignoriert.

Achtung – hier ist bitte auch die Besonderheit eines Vorlageverfahrens zu berücksichtigen: Der EUGH beantwortet genau die Fragen, die ihm vorgelegt werden, keine weiteren! Wenn also z. B. gesagt wird, dass die Frage des Verwertungsverbots vorliegend an der Bejahung der vier vorherigen Fragen liegt, ist dies auf die konkreten Fragen bezogen. Die Rechtsprechung ist eindeutig so zu verstehen, dass damit nicht gesagt ist, ob nicht noch weitere Verstöße gegen EU-Vorgaben vorliegen – wie die EMRK oder ganz besonders Artikel 6 der RICHTLINIE (EU) 2016/343 („Richtlinie die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren“). Hier fängt also die Diskussion gerade erst an!

Der rechtliche Kontext

Die Nutzung der EncroChat-Daten in Strafverfahren wirft grundlegende Fragen zum Umgang mit digital erlangten Beweismitteln auf. Ein zentraler Punkt dabei ist, ob diese Daten, die im Rahmen internationaler Ermittlungen erlangt wurden, überhaupt in deutschen Gerichten verwertet werden dürfen.

Hierbei kollidieren oft die Prinzipien der internationalen Rechtshilfe mit nationalen Verfahrensnormen und Datenschutzstandards.

  1. Verfahrensrechtliche Bedenken: Ein wesentliches Problem besteht darin, dass die Methoden zur Datenerlangung möglicherweise deutschen Standards nicht entsprechen. Dies führt zu der Frage, ob ein Beweisverwertungsverbot greifen könnte, insbesondere wenn dabei rechtliche Standards missachtet wurden.
  2. Internationale Kooperation und Rechtshilfe: Die Daten wurden im Rahmen einer Zusammenarbeit zwischen Frankreich und den Niederlanden gesichert. Der Bundesgerichtshof hat bereits festgestellt, dass die Verwertbarkeit solcher Beweise sich nach deutschem Recht richtet. Das bedeutet, dass selbst international erlangte Beweise unter Umständen in deutschen Strafverfahren genutzt werden dürfen, wenn sie zur Aufklärung schwerer Straftaten beitragen.
  3. Datenschutz und Grundrechte: Die Nutzung der EncroChat-Daten wirft auch Fragen hinsichtlich des Schutzes der Privatsphäre und anderer Grundrechte auf. Diese Daten wurden ohne das Wissen der Betroffenen und potenziell ohne ausreichende rechtliche Grundlage gesammelt, was zu Bedenken hinsichtlich des Grundrechtsschutzes führt.

Doch die Entscheidung geht über die konkreten Fragen weit hinaus: Ohne der abschließenden Analyse vorzugreifen, wird sich schon jetzt sagen lassen, dass sich deutliche Implikationen für den zukünftigen Umgang mit digitalen Beweismitteln in Strafverfahren ergeben werden. Insbesondere was die Abwägung im Umgang mit „schwierig erhobenen“ Beweismitteln angeht, dürfte die vorliegende Entscheidung weitreichende Wirkung haben.


Encrochat: Wie hilft der EUGH in abgeschlossenen Verfahren?

Wiederaufnahme von Verfahren nach EUGH-Urteil?

Immer wieder werde ich gefragt, ob die Wiederaufnahme eines Verfahrens wegen einer für den Betroffenen günstigen Entscheidung möglich ist. Daher hier die grundsätzliche Information zu diesem Themenkomplex: In Deutschland ist die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens an strenge Voraussetzungen gebunden, die in den §§ 359 ff. der Strafprozessordnung (StPO) geregelt sind. Eine Wiederaufnahme ist grundsätzlich nur möglich, wenn neue Beweise auftauchen, die auf eine mögliche Fehlentscheidung hindeuten, oder wenn sich herausstellt, dass im vorangegangenen Verfahren schwerwiegende Fehler gemacht wurden, wie zum Beispiel eine falsche Zeugenaussage.

Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) könnte theoretisch Einfluss auf laufende oder abgeschlossene nationale Verfahren haben, insbesondere wenn sie Auslegungsfragen zum EU-Recht klärt, die für das nationale Verfahren von Bedeutung sind. Nach dem Äquivalenzprinzip des EU-Rechts muss gewährleistet sein, dass innerstaatliche Rechtsvorschriften die Durchsetzung von unionsrechtlich gewährleisteten Rechten nicht ungünstiger regeln, als dies bei rein innerstaatlichen Rechten der Fall ist.

Allerdings sieht das deutsche Recht keine direkte Wiederaufnahmemöglichkeit allein aufgrund einer Entscheidung des EuGH vor. Die Wiederaufnahme aufgrund einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) wird durch § 79 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) geregelt, der in Fällen einer Verletzung von Grundrechten eine Wiederaufnahme ermöglicht. Dies gilt jedoch nicht automatisch für Entscheidungen des EuGH.

Eine analoge Anwendung des § 79 BVerfGG auf Entscheidungen des EuGH könnte in Erwägung gezogen werden, wenn eine Entscheidung des EuGH vergleichbare grundrechtliche Auswirkungen hat oder wenn durch die EuGH-Entscheidung eine Verletzung von EU-Grundrechten festgestellt wird, die für das nationale Verfahren von Bedeutung sind. Eine solche analoge Anwendung ist jedoch rechtlich unsicher und kann zu interpretatorischen Schwierigkeiten führen.

Es gilt also, dass nach derzeitiger Rechtslage in Deutschland eine Wiederaufnahme eines Verfahrens aufgrund einer EuGH-Entscheidung nicht direkt erzwungen werden kann, ohne dass eine entsprechende gesetzliche Grundlage geschaffen wird. Dies unterstreicht die Notwendigkeit legislativer Anpassungen, um die Wirkungen von EuGH-Entscheidungen im deutschen Rechtssystem angemessen zu berücksichtigen.

Ob nach der nunmehrigen Entscheidung eine Wiederaufnahme im Raum steht, kann ich derzeit nicht abschließend einschätzen, denn: Es muss vorrangig vom jeweiligen Gericht die Rechtmäßigkeit der grenzüberschreitenden Anordnung geprüft werden. Nur wenn dies verneint wird (was bisher ja nicht geschehen ist!) steht ein Verwertungsverbot im Raum. Ob nun die bisherige Prüfung formell mangelhaft erfolgt ist, wird pauschal nicht zu beurteilen sein!


Bedeutung der Entscheidung des EuGH

Die Entscheidung des EuGH wurde erwartet, um Licht in die bisher bestehenden komplexen rechtlichen Fragestellungen zu bringen. Sie wird die Praxis der Beweisverwertung in deutschen Strafverfahren nachhaltig beeinflussen und klare Richtlinien setzen, wie mit international erlangten digitalen Daten umzugehen ist.

Letztlich gilt, dass diese Entscheidung der Beginn der jetzt folgenden juristischen Diskussion ist, nicht ihr Ende: Diese Thematik bleibt ein zentraler Diskussionspunkt in der juristischen Fachwelt und könnte zukünftige Entscheidungen im Bereich der digitalen Forensik und des Strafrechts maßgeblich prägen. Dabei zeigt die bisherige Erfahrung, dass ein wesentlicher Verteidigungspunkt das Hinterfragen der Art und Weise ist, wie Encrochat-Urteile geschrieben wurden.


Die Entscheidung ist durchaus so zu verstehen, dass vieles gegen die Verwertbarkeit sprechen könnte, wobei entsprechend der bisherigen Rechtsprechung ein Verstoß gegen EU-Recht vorliegen muss, damit man dahin kommt. Der EUGH weist insoweit treffend (Rn. 127) darauf hin, dass die Frage nach einem Beweisverwertungsverbot nur zu beantworten ist, wenn es zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass die europäischen Ermittlungsanordnungen rechtswidrig erlassen worden sind. Sodann hat man sich als nationales Gericht Gedanken über ein Beweisverwertungsverbot zu machen:

Zum anderen ist es beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts grundsätzlich allein Sache des nationalen Rechts, die Vorschriften für die Zulässigkeit und die Würdigung der in unionsrechtswidriger Weise erlangten Informationen und Beweise im Rahmen eines Strafverfahrens festzulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 222).

Nach ständiger Rechtsprechung ist es nämlich mangels einschlägiger unionsrechtlicher Vorschriften nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, zu regeln, wobei sie jedoch nicht ungünstiger sein dürfen als diejenigen, die gleichartige, dem innerstaatlichen Recht unterliegende Sachverhalte regeln (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Dezember 1976, Rewe-Zentralfinanz und Rewe-Zentral, 33/76, EU:C:1976:188, Rn. 5, sowie vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 223).

Allerdings darf, wie sich aus den Rn. 104 und 105 des vorliegenden Urteils ergibt, nicht außer Acht werden, dass Art. 14 Abs. 7 der Richtlinie 2014/41 den Mitgliedstaaten ausdrücklich vorschreibt, unbeschadet der nationalen Verfahrensvorschriften sicherzustellen, dass in einem Strafverfahren im Anordnungsstaat bei der Bewertung der mittels einer Europäischen Ermittlungsanordnung erlangten Beweismittel die Verteidigungsrechte gewahrt und ein faires Verfahren gewährleistet werden, was impliziert, dass ein Beweismittel, zu dem eine Partei nicht sachgerecht Stellung nehmen kann, vom Strafverfahren auszuschließen ist.

Die dürfte die Notwendigkeit unterstreichen, die rechtlichen Rahmenbedingungen digitaler Überwachung und Datenbeschaffung zu überdenken und anzupassen. Insbesondere wird aus meiner Sicht zunehmend an der Abwägungslehre des BGH gesägt, so wie ich es schon früher prognostiziert hatte.

Wie weit diese Rechtsprechung geht, zeigt erst das Gesamtbild: Die ersten Ausführungen zu einem Beweisverwertungsverbot entstanden im Zuge der EU-rechtswidrigen Vorratsdatenspeicherung. Nunmehr geht es um potenzielle schlichte Verstöße gegen die entsprechende EU-Richtlinie zu Rechtshilfeersuchen. Dies macht deutlich, dass jeglicher Rechtsbruch auf EU-Ebene (deutsche) Richter dazu zwingt, sich Gedanken zu einem Verwertungsverbot zu machen und dies auch im Urteil auszuführen. Es werden also insbesondere von Strafverteidigern in Zukunft Verstöße gegen die EMRK und die Grundrechtecharte in den Fokus genommen werden, um das Spielfeld hier zu erweitern.

Rechtsanwalt Jens Ferner (IT-Fachanwalt & Strafverteidiger)
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Rechtsanwalt Jens Ferner (IT-Fachanwalt & Strafverteidiger)

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